Johann Wolfgang Goethe: Sonette
Johann Wolfgang Goethe
Sonette
Das Sonett
Mächtiges Überraschen
Freundliches Begegnen
Kurz und Gut
Das Mädchen spricht
Wachstum
Reisezehrung
Abschied
Die Liebende schreibt
Die Liebende abermals
Sie kann nicht enden
Nemesis
Christgeschenk
Warnung
Die Zweifelnden / Die Liebenden
Mädchen / Dichter
Epoche
Charade
Johann Wolfgang Goethe: Das Sonett
Das Sonett
Sich in erneutem Kunstgebrauch zu üben,
Ist heilge Pflicht, die wir dir auferlegen.
Du kannst dich auch, wie wir, bestimmt bewegen
Nach Tritt und Schritt, wie es dir vorgeschrieben.
Denn eben die Beschränkung läßt sich lieben,
Wenn sich die Geister gar gewaltig regen;
Und wie sie sich denn auch gebärden mögen,
Das Werk zuletzt ist doch vollendet blieben.
So möcht ich selbst in künstlichen Sonetten,
In sprachgewandter Mühe kühnem Stolze,
Das Beste, was Gefühl mir gäbe, reimen;
Nur weiß ich hier mich nicht bequem zu betten.
Ich schneide sonst so gern aus ganzem Holze,
Und müßte nun doch auch mitunter leimen.
*
Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen
Und haben sich, eh man es denkt, gefunden;
Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.
Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
Und wenn wir erst in abgemeßnen Stunden
Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.
So ists mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.
Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
Mächtiges Überraschen / Freundliches Begegnen
Mächtiges Überraschen
Ein Strom entrauscht umwölktem Felsensaale,
Dem Ozean sich eilig zu verbinden;
Was auch sich spiegeln mag von Grund zu Gründen,
Es wandelt unaufhaltsam fort zu Tale.
Dämonisch aber stürzt mit einem Male
Ihr folgen Berg und Wald in Wirbelwinden
Sich Oreas, Behagen dort zu finden.
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